VIBPs

Reisen bildet, ob aus oder weiter sei dahin gestellt, auf jeden Fall unterhaltsam und soziologisch nicht unbedeutend. Ich fahre an einem Dienstagnachmittag von Hamburg nach Berlin, ICE, sehr gut gefüllt. Auf Geheiß der heute mal freundlichen Fahrkartenkontrollfachangestellten zücken ausnahmslos alle ihre Schwarze Mamba – Aha, Buisenessexpress denk ich mir, aber zum fliegen zu knausrig. Oder wegen der 100% Ökostrom? Vielleicht wenn der neue Flughafen mal…? Abstecher ins Boardbistro: Buisenessstreichelzoo. Agenturschönheiten, die sich außer Prenzlauerberg nur Hamburg als Wohnalternative vorstellen können, sabbernde Kollegen im Anzug und Bierfahne, die an ihren Lippen kleben. Wahnsinnig trendy, wie sich alle, während sie Smalltalk absondern gleichzeitig auf ihren Outdoorblackberries die elektronische Post checken, die Welt retten und ihren Lieben daheim schreiben, daß der Zug pünktlich ist.
Ich freu mich einfach nur auf das Bier nacher mit Martin, auf nen schönen entspannten Abend und bin froh, daß ich kein Veryimportantbuisenesspeople bin.

Denk ich an Schwaben in der Nacht…

Jetzt streiten sie wieder: Dürfen die Türken beitreten und mitspielen oder nicht. Was auf dem Taksimplatz und im Gezipark passiert, hat ganz sicher nichts mit europäisch-zivilisiertem Umgang mit friedlichen Demonstranten zu tun. Aber wer jetzt schreit, die Türkei ist weit entfernt davon, ein Beitrittskandidat zu sein, dem möchte ich in Erinnerung rufen, daß wir selbst auch eher ein Zwangsaustrittskandidat sind, denn Musterknabe: Es mag vielleicht weit hergeholt erscheinen, aber ich muß bei den Bildern aus Istanbul unwillkürlich an selbige aus Stuttgart denken, als die unsrige Executive mit Wasserwerfern und Tränengas einen Park von friedlichen Demonstranten befreite. Oder ich denke noch weiter zurück an Wackersdorf oder das Frankfurter Wäldchen am Flughafen. Und bei all diesen Protesten ging es „nur“ um konkrete Anlässe und Bauvorhaben, die staatspolitische Dimension wie jetzt in der Türkei fehlte gänzlich. Dennoch gleichen sich die Bilder in fataler Weise.
Um es deutlich zu sagen: Das, was hier passiert, dürfen wir in keiner Weise hinnehmen, es zu verurteilen unsere Pflicht. Aber Ausgrenzung ist kein Mittel. Oder aber, wir fangen damit bei uns an und trennen uns von einem Bundesland aus dem Südwesten.
Wer jetzt von „mangelhaftem Demokratieverständnis“ redet, der möge sich bitte die Bilder aus Germanien in den Archiven von ARD und ZDF zu Gemüte führen. Und die völlig berechtigte Kritik an der Türkei richtig und laut formulieren.

PS: Über den Neofaschismus in Rusland werd ich mich in Kürze auch noch aufregen…

Reisegedanken, diesmal am Montag

Für meinen kleinen Horizont gibt es Grenzen. Eine wird erreicht, wenn ich versuche, während einer Zugfahrt zu schreiben. Schreiben hat etwas mit Stille zu tun, Stille kommt von Stillstand. Und das ist ganz sicher keine Eigenschaft von Zügen, jedenfalls im Idealfall. Der allerdings wird immer häufiger zum Ausnahmefall. Der Mitreisende direkt in der Reihe hinter mir hat es auch nicht so mit der Ruhe, ich darf an seinem Leben teilnehmen, ob ich will oder nicht. Weiß sein Telefonpartner eigentlich, daß ich jetzt ein Druckmittel gegen ihn in der Hand habe? Ich vermisse die Frage „Darf ich mir mal den Sportteil borgen?“ Bestenfalls fragt man nach dem Ladegerät des Mitreisenden. Heute ist Montag, ich könnte auch bis München mitfahren…