Ich hab Leben

Ich bin krank. Und schwerbehindert. Nicht weniger. Aber auch nicht mehr. In Ordnung, es ist nicht nur ein Schnupfen. Es ist auch nicht nur eine Krankheit, es sind mehrere und alle chronisch und nicht heilbar. Ich könnte auch schreiben unheilbar, aber dann sind wir sofort an dem Punkt, warum ich das hier und jetzt schreibe. Aber warum eigentlich nicht.

Wie geht’s dir?“
Killerfrage.

Erstens interessiert es dich nicht. Zweitens würden dich Teile meiner Antwort verunsichern. Aber bitte, du hast es so gewollt:
Als ich fünfundzwanzig war, bekam ich von einem wunderbaren Neurologen mitgeteilt, daß ich Multiple Sklerose habe. Das ist übrigens die Krankheit, die jeder kennt, weil er jemanden kennt, der eine Tante hat, die auch MS hat und im Rollstuhl sitzt. Alle sitzen im Rollstuhl. Damals begegnete ich das erste Mal in meiner Krankenkarriere zwei Augen, die mich so hilflos anschauten, daß ich spontan vergaß krank zu sein und anfing, mein Gegenüber in den Arm zu nehmen und zu trösten.

Ich habe seit der Diagnose übrigens nie darüber nachgedacht, irgendwann im Rollstuhl zu sitzen. Ich hatte auch nie Alpträume deswegen. Sorry. Warum schreibe ich, der wunderbare Neurologe? Ich habe ihn gefragt: Was mach ich denn jetzt? Und er hat geantwortet: Abwarten, Tee trinken und Stress vermeiden. Lernen sie mit der Krankheit zu leben, kämpfen sie nicht gegen sie. Diese einfachen Worte begleiten mich immer noch und haben mir mehr als einmal das Überleben gesichert.

Aber meinem Umfeld ging es nach der Diagnose so richtig schlecht. Die haben nächtelang nicht geschlafen, vorsorglich Pflegeplätze für mich gesucht, sich damals noch ohne Internet über meine Krankheit erkundigt und mein Sterbedatum ermittelt.

Und ich? War undankbar, hab einfach weiter gelebt, mich auf der Meisterschule angemeldet, neben dem Vollzeitjob die Schulbank gedrückt und am Ende auch noch erfolgreich abgeschlossen. Warum gibt mein Umfeld mein Leben vor mir auf?

Du mußt dich doch schonen!“ Warum? Ich bin krank. Nicht tot. Das kommt erst noch. Aber es scheint ein ungeschriebenes Gesetz der Nichtkranken zu sein, daß man als Erkrankter gefälligst zu leiden hat. Was für mich auch den Erfolg von „Fifty shades of grey“ erklärt. Ich muß leiden und die anderen wollen mich leiden sehen. Sonst macht das keinen Spaß.

Nimm einem Kranken niemals sein Leiden weg!

Mag zynisch klingen, aber viele Menschen wollen leiden! Sie scheinen nur noch ihre Krankheit oder ihre Behinderung zu haben. Es ist ihr einziger Halt im Leben, Sinn des Lebens. Man erfährt plötzlich eine nie gekannte Aufmerksamkeit. Angefangen von Ärzten und Pflegern, Therapeuten, Angehörigen, Freunden. Ich weiß von was ich schreibe. Ich hab es selbst erlebt. Und ja, auch genossen.

Aber ich habe nie gelitten. Ich hasse Worte wie Leidensgenosse. Ich bin zwar leider Genosse, aber ich leide nicht. Noch schlimmer Mitleidende. Von Mitleid kann ich mir nichts kaufen. Es fördert auch nicht die Genesung. Leidet gefälligst alleine.

Du hast gut reden“ Es beginnt das Krüppel-Bingo.

Deswegen werde ich auch oft angefeindet. Du kannst ja noch laufen. Du hast keine Probleme einzuschlafen. Du hast dies nicht. Du hast das nicht. Ein völlig absurder Wettstreit. Wer hat die meisten Beschwerden. Wer hat wie viele Medikamente, wer die heftigsten Nebenwirkungen. Wer hat wie lange auf einen Facharzttermin warten müßen. Wer hat die schlechtesten Erfahrungen mit der bösen Krankenkasse gemacht. Wer wurde am ungerechtesten von der Rentenversicherung behandelt. Wer mußte durch mehr Instanzen klagen, um am Ende doch keinen blauen Parkausweis zu bekommen. Ich spiel da nicht mit.

Wenn du denkst, es geht nicht mehr…“
Es gibt immer Luft nach unten

Mein Leben und damit auch meine Kranken- und Behindertenkarriere sind noch nicht zu Ende. Ich habe über zwanzig Jahre sehr gut mit der einen Krankheit gelebt. Ich hab ihr die Aufmerksamkeit geschenkt, die ich für angebracht hielt. Irgendwann hab ich aufgehört, die Krankheit zu erwähnen, ich hab sie fast vergessen. Man sah es mir ja auch nicht an. Alles war gut. Ich wußte, daß ich sie habe. Nicht weniger und nicht mehr.

Natürlich hätte ich mich in Depressionen ertränken können, gepaart mit lustigen Horrorszenarien, wie ich hilflos im Rollstuhl vor mich hin vegetiere. Aus dem bodentiefen Fenster starre, Falschparker fotografiere und beim Ordnungsamt melde. Hab ich aber nie. Keine Ahnung warum. Es ging mir gut. Nur meiner Umwelt wieder nicht. Du mußt viel öfter zum Arzt. Hast du mal deine Blutwerte testen lassen? Du mußt endlich mal eine Reha beantragen! (Das war alles teils lange Zeit vor dem Zusammenbruch und dem Koma.)

Warum immer diese pathologische Samariteritis?

Dann kam vor über zwei Jahren die Depression. Ich nehm es vorweg, es war keine klassische Depression. Es hat sich ja am Ende gezeigt, warum die Antidepressiva nichts gebracht haben. Ich war alleine, Beziehung am Ende, Burnout, leer. Und ich war krank, schwer krank aber nicht erkannt und entsprechend auch nicht behandelt. Ich konnte meinem eigenen Verfall zusehen. Aber keine Ursache. Keine Diagnose. Ich war am Ende und habe mich in die Psychatrie einweisen lassen.

Mein Umfeld diesmal sprachlos. Keine Ratschläge. Keine Besuche. Konnte wohl keiner was mit anfangen. Also Abstand. Zwei Monate. Gebessert hat sich mein Zustand nicht. Körperlich ging es mir immer schlechter. Aber auch jetzt waren die Ärzte nicht in der Lage, was zu finden. Ich habe wieder nicht gelitten. Aber auch nicht wirklich gelebt. Ein Leben unter Drogen, nur ohne.

Ich dachte ich hätte ein Leben auf der Überholspur gelebt. Irrtum. Es war der Seitenstreifen.
Fortsetzung folgt…